Donnerstag, 16. Mai 2013

Vom Nachteil, Geburtstag zu feiern

Gleich am Anfang seines Buches Vom Nachteil, geboren zu sein schreibt der Philosoph Emile Cioran den durch und durch wahren Satz: "Wir rennen nicht dem Tod entgegen, wir fliehen vor den Katastrophe der Geburt." So sehr ich diese Ansicht auch teile, muss ich sie doch für meinen speziellen Fall geringfügig abwandeln: Jedes Jahr von Neuem fliehe ich vor der Katastrophe meines Geburtstages. Meine Freunde und Bekannten haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass an besagtem Tag bei mir keine Party oder Fete (oder wie man das auch immer nennen will) zu erwarten ist. Sie haben gelernt, damit zu leben ... und der Umstand, dass ich konsequenterweise keine Geschenke von ihnen erwarte, macht die Sache für sie erträglicher.

So gesehen muss ich also nicht wirklich die Flucht ergreifen und mich unter Vortäuschung einer anderen Identität an einem sicheren Ort verstecken, um mich dem Zugriff von Gratulationsbesessenen und Feierfreudigen zu entziehen. Ich kann in meinen eigenen vier Wänden ausharren und mich bei Kaffee und Kuchen darauf konzentrieren, meine ganz individuelle Abneigung gegen Geburtstagsfeiern zur philosophischen Theorie zu überhöhen.

Das ist ganz einfach, denn es gibt eine ganze Reihe von stichhaltigen Gründen dafür, das Jubiläum des eigenen Eintritts in diese Welt nicht festlich zu begehen: 1. Der Tag, an dem wir auf diese Welt gekommen sind, kann gar kein Anlass zum Feiern sein, da er den Anfang eines Lebens in Leiden, Enttäuschung und Überdruss darstellt; 2. Käme es unter diesen Umständen zu einer Feier, dann würde mich das mit einer ausgewachsenen Horde von Menschen konfrontieren, die meine Ansicht über das Leben weder teilen noch verstehen; 3. Würde ich im Rahmen der Festivitäten versuchen, ihnen diese meine Auffassung verständlich zu machen, würden sie vor jedem Versuch, etwas zu begreifen, erst einmal den Versuch machen, mir diese Auffassung wieder auszureden – was erfahrungsgemäß zu schlechter Stimmung bei allen Beteiligten führt; 4. Ich wäre also an diesem Tag nicht nur mit diesen Menschen, sondern auch und vor allem mit der Einsicht konfrontiert, dass ich diesen Tag, an dem es nichts zu feiern gibt, mit Leuten verbringen müßte, mit denen ich eigentlich nichts gemeinsam habe; 5. Ein Geburtstag, den man mit seinen Freunden feiert, führt also unweigerlich zu der Erkenntnis, dass man gar keine Freunde hat, denn der Begriff der Freundschaft impliziert eine Übereinstimmung in den grundsätzlichen Ansichten; 6. Wer seinen Geburtstag feiert, der ist also allein unter Fremden und so gesehen wäre es von vornherein besser gewesen, diesen Tag in aller Stille und Abgeschiedenheit vorüber gehen zu lassen.

Aber das ist noch nicht alles. Nicht nur das so genannte Geburtstagskind ist ein Leidtragender dieses verhängnisvollen Datums und einer latenten Partystimmung der Mitmenschen, die nur auf eine Gelegenheit wartet, um auszubrechen. Auch die arglosen Gäste werden zu Opfern dieses Schicksalstages. Erfahrungsgemäß sind die Bekanntschaften, die man im Laufe seines Lebens angesammelt hat, nicht miteinander verträglich. Eine Geburtstagsparty entfremdet uns nicht nur (wie unter 5. bereits ausgeführt) von unseren vermeintlichen Freunden, es gilt auch, dass die vermeintlichen Freunde für einander Fremde sind – und bleiben, denn sie sind oft so verschieden voneinander, dass eine Annäherung so gut wie ausgeschlossen ist. Selbst so etwas wie den Schein einer Annäherung kann es nur unter der Bedingung geben, dass man ihnen Alkohol auftischt und möglichst laute Musik auflegt. Eine Geburtstagsparty ohne den Einsatz von Spirituosen und Popmusik ist nicht nur undenkbar, sondern auch gefährlich und wird unweigerlich in einem Debakel enden. Was nicht heißen soll, dass das Gegenteil besser wäre. Denn da jedes Heilmittel auch Neben- und Nachwirkungen hat, ist hier zu beachten, dass die scheinbare Annäherung unserer fremden Freunde zu dem Irrglauben ihrerseits führt, eine richtig geile Party gefeiert zu haben. Diese Illusion hält nicht selten bis in die frühen Morgenstunden des Folgetages an und bewirkt das Entstehen einer angenehmen Erinnerung, die ihrerseits zu der weiteren Illusion führt, dass es im nächsten Jahr auch wieder so toll werden wird.

Wenn wir also eine Lehre aus dem Feiern von Geburtstagen ziehen können, dann diese: Geboren zu sein heißt, zu einem Leben verurteilt zu sein, das im Wesentlichen aus einander bestärkenden Illusionen besteht, deren Wirkung keineswegs dadurch abgeschwächt wird, dass wir sie als Illusionen durchschaut haben. Und im Grunde ist es noch schlimmer. Um noch einmal Cioran zu zitieren: "Die Illusion gebiert die Welt und erhält sie aufrecht, man zerstört jene nicht ohne diese."

Im Großen und Ganzen gleicht die menschliche Existenz nämlich einem Pauschalurlaub, bei dem einen der Veranstalter – wer immer er sein mag – nach allen Regeln der Kunst über den Tisch zieht. Bevor man gezeugt wurde, denkt man sich nämlich: 'Dieses Nichtsein ist auf die Dauer auch ziemlich öde. Ich brauche dringend mal einen Tapetenwechsel.' Mit der Zeugung betritt man dann das mütterliche Reisebüro und gewinnt sofort einen falschen Eindruck von dem, was einen da draußen in der Welt und im Leben erwartet. Die Gebärmutter ist der Prospekt, in dem alle Dinge in leuchtenden Farben erscheinen, wo es keinen Regen, keine Baustellen und kein Ungeziefer in der Küche gibt. Also macht man sich frohen Mutes auf den Weg durch den Geburtskanal und liest, kurz vor dem Ausgang und wenn es zu spät zum Umkehren ist, das Hinweisschild: Laßt jede Hoffnung fahren, die ihr mich durchschreitet.

Wie Sie sich inzwischen denken können, feiere ich nicht nur keinen meiner Geburtstage, ich fahre auch nie in Urlaub. Wozu auch. Eines Tages werde ich die richtig große Reise antreten ... die größte, die es gibt ... und in das Nichts zurückkehren, aus dem ich einst unter Vorspiegelung falscher Tatsachen herausgelockt worden bin ... und dann, erst dann, werde ich einen Grund haben, mal so richtig die Sau raus zu lassen.

P.S.

Selbstkritisch habe ich anzumerken: Das alles hier hätte man auch kürzer sagen können ... kürzer jedenfalls als Schopenhauer und Cioran mit ihren ausgewachsenen Büchern. Der Philosoph und Psychologe Julius Bahnsen überliefert uns folgenden Stoßseufzer eines Schülers: "Der Mensch wird überall zu wenig gefragt, ob er mit dem zufrieden ist, was mit ihm unternommen werden soll: er wird nicht einmal gefragt, ob er zur Welt kommen wolle oder nicht, und das ist ein großes Übel, denn man gerät in große Verlegenheit oft bloß, weil man auf der Welt ist, und andere Leute nehmen es einem noch dazu übel." (Zitiert nach L. Lütkehaus, Nichts, S. 268)

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